Kindschaftssachen – ein Graus
Das Erste, was mir als Anwältin im Familienrecht mit auf den Weg gegeben wurde: In Kindschaftssachen sei nicht viel zu erreichen und die Mühe lohne sich bei dem Verfahrenswert nur in den seltensten Fällen.
Schnell habe ich gemerkt, dass in diesen Worten leider sehr viel Wahrheit steckt.
Zusätzlich habe ich durch meine Praxiserfahrung schon zu Beginn lernen müssen, dass bei Kindschaftssachen, in denen das Kindeswohl selbstredend oberste Priorität haben sollte, genau das gerade nicht immer zutrifft. Das Kind, das eigentlich in jedem Fall als Gewinner aus einem Verfahren hervorgehen sollte, ist viel zu oft der traurige Verlierer!
Das ist meiner Meinung nach insbesondere auf zwei Punkte zurückzuführen:
Ein bundesweit einheitlich geltender Qualitätsmaßstab existiert nicht. Der Ausgang eines Kindschaftsverfahrens ist vielmehr von den jeweiligen Persönlichkeiten und Einstellungen der einzelnen Verfahrensbeteiligten abhängig. Ich lehne mich sogar so weit aus dem Fenster zu sagen: Es gibt wohl kein anderes Rechtsgebiet, in dem eine persönliche Meinung eine so große Gewichtung hat.
Je nachdem welche individuellen Ansichten von Jugendamtsmitarbeitern, Verfahrensbeiständen und beauftragten Sachverständigen vertreten werden, hat ein Kind mal Glück und mal richtig Pech!
Natürlich steht über alledem letztlich die Entscheidung des Gerichts. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass die Meinung der „Fachleute“ die Weichen für eine Entscheidung vorgeben. Natürlich gibt es Grundsätze, die von den Verfahrensbeteiligten einzuhalten sind. Das ändert aber nichts daran, dass jede Handlung, Einstellung oder Verhaltensweise eines Elternteils, je nachdem welches Ergebnis letztlich gewünscht ist, interpretiert werden kann.
Beispielsweise kann eine Mutter, die ihr Kind in Corona-Zeiten nicht in den Kindergarten gegeben, sondern ihr Kind überwiegend zu Hause betreut hat, entweder als „überbehütend“ und „überfürsorglich“ oder aber als „verantwortungsvoll“ und „vorbildlich“
kategorisiert werden.
Die Interpretationsspielräume sind gefühlt grenzenlos. Natürlich ist jeder Fall individuell und eine Einzelfallentscheidung erforderlich.
Willkürlich sollte eine Entscheidung aber niemals sein.
Das zu wissen ist für mich als Anwältin, die am Ende immer das beste Ergebnis für das Kind erreichen will, nur schwer auszuhalten. Kindschaftssachen werden auch deswegen in der Praxis ungern bearbeitet, da die emotionale Belastung in diesen Fällen sehr hoch ist.
Auch wenn ich die notwendige Professionalität und Abgrenzung beherrsche, bin ich trotzdem immer wieder von den einzelnen Schicksalen betroffen. Aus diesem Grund bearbeite ich auch nur sehr wenige und ausgewählte Kindschaftssachen.
Ich kämpfe nicht nur für eine Eltern-Seite, sondern habe immer den Kinderschutz im Blick. Genau hier liegt das Problem: Der Kinderschutz und damit das Kindeswohl stehen nicht immer im Fokus des Verfahrens. Hier hat der Gesetzgeber es meiner Meinung nach verpasst, den Kinderschutz effektiv umzusetzen. So bestehen etablierte Grundsätze, die nicht mit dem Kinderschutz vereinbar sind. Viel zu oft werden die Kinderrechte den Elternrechten untergeordnet. So würde ein fester Wille eines 11-Jährigen, einen Elternteil nicht sehen zu wollen, niemals ausreichen, den Umgang zu einem Elternteil nicht stattfinden zu lassen. Auch wenn das Kind sich wortwörtlich mit Händen und Füßen wehrt.
Auch Gewalt ist aktuell kein Kriterium, um Umgänge auszuschließen. Wenn beispielsweise der Vater in der Vergangenheit gewalttätig gegen die Mutter war, wird immer noch die Auffassung vertreten, dass dies kein Anzeichen dafür sei, dass Gewalt auch gegen das Kind angewendet wird.
Hinsichtlich von Gewaltschutzmaßnahmen ist der Gesetzgeber hier nicht konsequent. Am Ende überwiegt das Recht eines gewalttätigen Mannes, sein Kind zu sehen, das Recht des Kindes auf vollständig gewaltfreie Erziehung. Mittlerweile weiss man, dass Gewalt gegen die Mutter auch immer (mittelbare) Gewalt gegen das Kind bedeutet.
Es ist die Verantwortung des Staates, hier zu handeln und den Kinderschutz auf allen Ebenen effektiv und konsequent zu gewährleisten.
Der Stellenwert des Kinderschutzes und damit auch von Kindschaftssachen, lässt sich übrigens an dem sogenannten Verfahrenswert gut veranschaulichen: Der Gesetzgeber hat für Kindschaftssachen einen Verfahrenswert von 4000 € festgelegt.
Das bedeutet, dass ein Anwalt, der keine Stundenvereinbarung mit dem Mandanten hat, ganz egal wie umfangreich das Verfahren ist, maximal*1 993 € netto abrechnen kann. Ohne Vergleich, was gerade bei hochstrittigen Kindschaftssachen eher zutrifft, sind es sogar nur 715 €.
Das ist der Satz, den Familienrechtsanwälte auch pauschal bekommen, wenn Mandanten auf Grund von finanziellen Schwierigkeiten Prozesskostenhilfe bewilligt bekommen.
Bei einem Stundensatz von 230 € netto würde das bedeuten, dass für ein Verfahren maximal 3-5 Arbeitsstunden zur Verfügung stünden, um kostendeckend zu arbeiten.
Und bei aller Liebe: Das ist leider völlig an der Realität vorbei. Gerade bei hochstrittigen Kindschaftssachen komme ich auf eine Stundenzahl, die gerne einmal im mittleren zweistelligen Bereich oder sogar höher ist. So werden bei hochstrittigen Kindschaftssachen Sachverständigengutachten erstellt, die einen Umfang von teilweise über 300 Seiten haben.
Als Anwältin muss ich den Fall in- und auswendig kennen. Jedes Detail der Geschehnisse kann relevant sein. Kindschaftssachen sind immer dynamisch, d.h. es passiert laufend etwas Neues und damit auch möglicherweise etwas relevantes und entscheidungserhebliches.
Um ein Gutachten beispielsweise angreifen zu können, ist es notwendig, dass es von vorne bis hinten durchgelesen, durchdacht und rechtlich bewertet wird. Allein eine Stellungnahme kann hier mehrere Arbeitstage in Anspruch nehmen. Wenn dann möglicherweise ein Befangenheitsantrag in Betracht kommt, ist es ein so umfangreiches Verfahren, dass es einfach nicht mit den abrechenbaren gesetzlichen Gebühren zu leisten ist.
Es ist also kein Wunder, dass es in der Praxis genauso wahrscheinlich ist, dass ein Befangenheitsantrag gestellt wird, wie eine Sonnenfinsternis mitzuerleben. Dass oft überhaupt nicht erst versucht wird, ein Sachverständigengutachten anzugreifen, wissen auch die Sachverständigen. Die hierbei bestehende Gefahr, wenn keine Fehlerüberprüfung zu erwarten ist, kann jeder aufmerksame Leser selbst erkennen. Letztlich gilt auch hier: Wo kein Kläger, da kein Richter.
Kindschaftssachen sind hochkomplexe Angelegenheiten, die juristisches Wissen, genaues arbeiten, Empathie, Energie und damit auch zeitliche und wirtschaftliche Ressourcen benötigen.
Die meisten Kindschaftssachen können also nur dann ordentlich bearbeitet werden, wenn entweder eine Stundenvereinbarung besteht, man also auf Honorarbasis vom Mandanten pro Arbeitsstunde bezahlt wird, oder aber der Fall rein unter „pro Bono“ läuft, also anwaltlichem Ehrenamt.
In der Realität heißt das, dass diejenigen, die sich einen Honorar-Anwalt leisten können, letztlich auch die deutlich besseren Chancen haben.
Das Ganze ist mit dem System der privaten Krankenversicherung vergleichbar. Der, der finanziell bessergestellt ist, ist privilegiert.
Das Fatale bei Kindschaftssachen ist, dass es eben um Kinderleben geht. Ein effektiver Kinderschutz ist nur zu gewährleisten, wenn wir hier eine Veränderung bewirken. Auf allen Ebenen. Wir dürfen diesen Teil des Familienrechts nicht weiterhin so stiefmütterlich behandeln. Wir brauchen gerade in Kindschaftssachen motivierte, engagierte Anwälte und Anwältinnen, die mit Leidenschaft und voller Einsatzbereitschaft für das Kindeswohl kämpfen.
Das ist aber nur möglich, wenn auch der Gesetzgeber dem Kindeswohl endlich ein höherer Stellenwert einräumt.