Obwohl ich mich nun schon seit Jahren auf politischer Ebene mit den Themen Kinderschutz, Gewalt und Missbrauch beschäftige und sogar im Rahmen der kindergerechten Justiz im Nationalen Rat Berührungspunkte mit dem Familienrecht hatte, hätte ich das, worum es hier geht, so nicht für möglich gehalten. Einzelne Fälle von Behördenversagen? Klar, bekannt aus den Medien. Aber Justizversagen in dem Ausmaß? Staatliche Kindeswohlgefährdung, die weit über “Das Jugendamt ist Gefährdungsmeldungen nicht ordentlich nachgegangen” hinaus geht? Richter und Richterinnen, die Zwang gegen Kinder anordnen und sie in den Umgang mit Gewalttätern zwingen? Nein, mein Glaube an einen funktionierenden Rechtsstaat war lange Zeit recht stabil – trotz meiner eigenen schlechten Erfahrungen mit unserem System in meiner Kindheit.
Doch dann habe ich mich als “Quereinsteigerin” anhand eines Einzelfalls mit Hilfe von hochqualifizierten Fachleuten in den mangelnden Kinderschutz im Familienrecht eingearbeitet. Heute weiß ich, dass es zumindest im Kindschaftsrecht Fakt ist, dass dieses Funktionieren des Rechtsstaates ortsabhängig ist. Und dass es ganze Landkreise gibt, die durchzogen sind von kindeswohlfeindlichen, menschenverachtenden Ideologien, die getarnt als Pseudo-Wissenschaft heute noch in Fortbildungen weitergegeben werden.
Für das KFZ-Sachverständigenrecht gibt es ein eigenes Gesetz, das die Voraussetzungen und Kontrollmechanismen haargenau regelt. Für familienrechtliche Gutachter gibt es kein eigenes Sachverständigenrecht. Hier überlasst der Staat die Bewertung von Kindern und ihrem Wohl Menschen, die nicht annähernd für die Arbeit mit Kindern qualifiziert sein müssen, die mitunter nichts über Psychologie und Traumata wissen oder noch schlimmer, wie oben erwähnt, abstruse Ideologien vertreten. Und Kontrolle und Transparenz sind überhaupt nicht vorgesehen.
Am Handelsgericht stellt der Gesetzgeber dem “Jura-Richter” zwei Nicht-Juristen an die Seite, die als Praxisrichter mit ihrer besonderen Fachkunde und Berufserfahrung die Fälle bewerten können – mit der Begründung, dass Unternehmertum nicht nur durch die juristische Brille betrachtet werden kann.
Und am Familiengericht? Da sitzen drei “Jura-Richter”, die keine Praxiserfahrung im Umgang mit Kindern oder Berufserfahrung im Kinderschutz an der Basis vorweisen können müssen. Was ist die Begründung hierfür? Dass es völlig angemessen ist, Lebenswege von Kindern nur durch die juristische Brille zu betrachten?
Es ist tragisch, wie durchorganisiert und vergleichsweise verlässlich andere Rechtsbereiche sind. Nur im Kindschaftsrecht, wo es um die Schutzbedürftigsten geht, gibt es keine Transparenz, keine Kontrolle und wenig Verlässlichkeit. Die Politik en gros scheut sich nach wie vor, dieses heiße Eisen anzupacken. Zu leicht ist es, bei den Wenigen, die es schaffen sich öffentlich zu äußern, Einzelfälle zu vermuten. Zu unbequem der Gedanke, das eigene (blinde) Vertrauen in staatliche Organe in Frage stellen zu müssen. Und natürlich haben Kinder keine Lobby – zumindest nicht so finanzstark wie die Auto-Lobby und nicht so prestige-trächtig wie Banken.
Sich für Kinderschutz einzusetzen wird oft belächelt. Zu weich, Gutmenschentum, Frauensache, Wirtschaft ist doch alles. Ich werde an dieser Stelle nicht auf die Folgekosten in Milliardenhöhe auf Grund zerstörter Kindheiten für den Staat eingehen. Weil es unwürdig ist. Jedes zerstörte Kinderleben an sich ist Grund genug, sich für sie einzusetzen.
Wir werden “das Böse” nie abschaffen. Wir werden es nie verhindern können, dass es schlechte Eltern und andere Personen gibt, die Kinden Schaden zufügen. Aber es ist sehr wohl machbar, das Leid von Kindern zu stoppen, sobald der Staat in Erscheinung tritt – egal in welcher Form. Es ist möglich, mit Kindern auf Augenhöhe über ihre Zukunft zu sprechen, sich in ihre Lebensrealität einzufühlen, sie Ernst zu nehmen. Und vor allem: Einen einmal eingeschlagenen Kurs zu korrigieren, wenn man merkt, dass es dem Kind schlechter geht als vorher.
Es ist möglich, dass all diese schlimmen Fälle irgendwann wirklich nur noch das sind: Tragische Einzelfälle. Und nicht mehr nur die Spitze des Eisbergs.
Doch dazu muss man erst einmal den Rest des Eisbergs freilegen. In dubio pro infante möchte dabei helfen.
Mein Ziel ist es, dass wir als Gesellschaft in zwanzig Jahren vor den heutigen Kindern stehen und sagen können: “Wir haben alles in unserer Macht stehende getan, um euch zu schützen.”