Gesellschaft
Wenn es um Gewalt an Kindern geht, fordert die Politik die Bevölkerung immer wieder zu Zivilcourage auf: Schaut hin, macht eine Meldung ans Jugendamt, glaubt Kindern, wenn sie sich euch anvertrauen, stellt Strafanzeigen.
Die Gesellschaft erwartet, dass Frauen – insbesondere Mütter – sich sofort aus Gewaltbeziehungen trennen. “Nimm doch einfach deine Kinder und geh in ein Frauenhaus, dann wird alles gut” – so einer der vielen Mythen, welche die Menschen und selbst die “guten” Fachkräfte gern glauben. Doch was passiert eigentlich, nachdem eine Strafanzeige erstattet wurde? Was, wenn ein Kind zwar aussagt, es aber letztendlich doch nicht für eine Verurteilung ausreicht, weil Aussage gegen Aussage steht, wie in den meisten Missbrauchsfällen? Was passiert wirklich, nachdem eine Frau in ein Frauenhaus geflohen ist, ihre traumatisierten Kinder im Schlepptau? Und was passiert, wenn Fachleute aus Polizei, Rechtsmedizin, Fachberatungsstellen oder Therapeuten diese stattgefundene Gewalt festgestellt haben? Um die Antwort vorwegzunehmen: All das bedeutet nicht automatisch Kinderschutz am Familiengericht.
Doch fangen wir von vorn an.
Gewalt heute: Die Täter
Wer sind eigentlich die Haupttäter, wenn es um Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch geht? Da sind sich sämtliche Studien einig: Die leiblichen Eltern. Selbst wenn nur ein Elternteil aktiv schädigt, so ist das andere Elternteil zumindest oft Mitwisser oder auch Mittäter. Bei häuslicher Gewalt, zu der nach geltendem Recht auch psychische Gewalt wie Zwangskontrolle, finanzielle Gewalt und Demütigungen gehören, gehen die meisten Taten von Männern aus und richten sich gegen Frauen. Oft haben diese Frauen Kinder mit dem Täter. Nehmen wir die Zahlen der Aufarbeitungskommission gegen sexuellen Kindesmissbrauch, sind die Haupttäter im familiären Bereich ebenfalls die leiblichen Väter. Das bedeutet nicht, dass nicht auch Mütter Täterinnen sein können – wenn es bereits so schwer ist, den Großteil der Gewalttäter zu greifen, kann man sich vorstellen, wieviel schwerer es ist, Gewalttäterinnen dingfest zu machen – doch das massive Geschlechter-Ungleichgewicht ist ein Fakt, der sich nicht wegdiskutieren lässt. Der aktuelle GREVIO-Bericht der Expertenkommission des Europarates beschreibt genau diesen Missstand und die Istanbul-Konvention, die für Deutschland geltendes Recht ist, zeigt ebenfalls auf, dass häusliche Gewalt geschlechtsspezifisch ist und sich hauptsächlich gegen Frauen und Kinder richtet.
Gewalt heute: Die Betroffenen
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung geht von 1-2 betroffenen Schulkindern pro Klasse aus – und das inkludiert noch nicht all jene Kinder, die körperliche und psychische Gewalt oder Vernachlässigung erleben. Aktuell leben demnach in Deutschland ungefähr 11,2 Millionen Menschen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt haben. Eine Zahl, die einen schier erschlägt.
Historisch geprägte Gewalt
Fast alle aus der sogenannten Boomer-Generation haben teils schwere körperliche Gewalt, damals noch getarnt als Erziehungsmaßnahme, erleben müssen. Kleine Erinnerung an dieser Stelle: Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung hat es erst im Jahr 2000 durch die Änderung des §1631 Abs. 2 BGB überhaupt ins Gesetz geschafft. Die ursprüngliche Fassung dieses Paragrafen stammt aus dem Jahr 1986 und gab dem Vater das Recht „angemessene Zuchtmittel gegen das Kind“ anzuwenden.
Und hier zeigt sich auch gleich ein Teil des Problems. Wie oft hat man schon den Satz “Das hat mir auch nicht geschadet” gehört? Doch wer beurteilt denn diese Schäden? Und wenn man sich die selbst früher erlebte Gewalt, abwesende Väter, depressive Mütter, großgeworden in einer Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die ihr Trauma nie aufgearbeitet hat, schönreden muss, wie sensibel ist man dann für das Leid von Kindern im Hier und Jetzt? Hunderttausende Frauen wurden nach dem Krieg Opfer von Vergewaltigungen durch Soldaten der Siegermächte. Die heimgekehrten Soldaten – auch das ist wissenschaftlich erwiesen – schlugen schwer traumatisiert zuhause brutal zu. Leidtragende waren Frauen und Kinder. Zudem hat die Schwarze Pädagogik der Nazi-Zeit noch sehr lang überlebt. Erst im Jahr 1987 ging die letzte Auflage des Buches „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der berühmt-berüchtigten Rassen-Verfechterin und Ärztin Johanna Haarer verkauft. Darin zu finden waren Tipps wie: Kinder muss man schreien lassen und bloß nicht zu viel körperliche Nähe zulassen, damit verhätschelt man sie nur. Sie rief dazu auf, selbst Säuglinge schon mit Hand und Rute zu schlagen. “Die Kindsnatur ausmerzen” war ein geflügelter Begriff, den man heute übersetzen würde mit: “Der Kindeswille muss gebrochen werden”. Die Gesamtauflage des Buches betrug 1,231 Mio.
All dieses Wissen ist nötig, um zumindest ansatzweise nachvollziehen zu können, wieso es zu so massivem Behörden- und Justizversagen kommen kann, das letzten Endes in staatlicher Kindeswohlgefährdung endet.
Fehlendes Wissen bei Entscheidungsträgern
Ein zweiter Baustein des Dramas ist die mangelnde Ausbildung und Qualifikation. Nach wie vor ist Kinderschutz in der Hälfte aller Studiengänge der Sozialen Arbeit überhaupt kein Thema. Es gibt genau zwei Kinderschutz-Professuren in ganz Deutschland.
Und eigentlich reicht auch kein einmaliges Modul, um nachhaltig fundiertes Wissen zu Kinderschutz, Trauma, misshandlungsrelevanten Verletzungsmustern, Verhaltensauffälligkeiten, PTBS, Täter*innenstrategien, Gewaltschutz und Co in den Köpfen zu verankern. Trotzdem arbeiten diese mangelhaft ausgebildeten Menschen dann als fallverantwortliche Sozialarbeiter*innen in den Jugendämtern, in den ambulanten und stationären Hilfen sowie in den Kindertagesstätten und sollen Gefährdungslagen einschätzen können.
Jurist*innen lernen während des Studiums nichts zu Kindern. Nicht einmal ein grundlegendes Wissen über die kindliche Entwicklungspsychologie oder über die Kommunikation mit gewaltgeschädigten Kindern in Gerichtsverfahren ist vorhanden. Manchen Juristen meinen, ein Kind könne nicht traumatisiert sein, weil es ja lacht. Diese Menschen entscheiden am Ende höchstrichterlich über das Schicksal und den weiteren Lebensweg eines Kindes. Die seit 01.01.22 verpflichtenden Fort- und Weiterbildungen in all diesen Bereichen für Familienrichter kommen nur sehr schleppend voran und auch die Qualität dieser Fortbildungen ist nach wie vor nicht geklärt.
Und dazwischen?
Dazwischen stehen z.B. Verfahrensbeistände, die sogenannten „Anwälte des Kindes“. Ein netter Gedanke, doch die Praxis zeigt auch hier massive Qualifikationsmängel. Aktuell kann absolut jeder Verfahrensbeistand werden. Es gibt keine Kontrollen. Es wird nicht evaluiert, wer qualifiziert ist, Gespräche mit Kindern zu führen, oder wer sich nur etwas für seine Stellungnahmen “aus den Fingern saugt”.
Weiter die familienrechtlichen Gutachter: Diese wiederum sollten Qualifikationen nachweisen. Doch wie weitreichend und tiefgehend diese sind, ist oft Interpretationssache. Schnell wird ein Online-Kurs zu Traumatologie von einem privaten Institut als ausreichende Qualifikation angesehen. Ein Mediziner – völlig egal ob in der Fachrichtung Allgemeinmedizin, Gynäkologie oder Urologie – darf ohne jegliche Weiterbildung seine Meinung kundtun zu der Frage, was das Beste für ein Kind ist. Und diese Gutachten kosten den Steuerzahlern teilweise bis zu 20.000 Euro. Vor allem aber kosten diese schlechten Gutachten einem betroffenen Kind im schlimmsten Fall seine gesunde Entwicklung.
Viele Rechtsanwälte machen “nebenher” noch die Arbeit als Verfahrensbeistand, womit wir wieder bei der mangelnden Qualifikation von Juristen wären. Und bei einer finanziellen Vergütung von 350-550 Euro pro Kind und Verfahren, erklärt sich von selbst, wie viel Zeit die meisten Verfahrensbeistände in das Aktenstudium, die Gespräche und die Erstellung eines Berichts investieren werden.
Wenn man also Pech hat, hat man am Ende zehn involvierte staatliche Akteure und am Ende bilden sie gemeinsam doch kein Netzwerk, das ein Kind schützt.
Unter den staatlichen Akteuren gibt es auch fachlich sehr gut ausgebildete Einzelpersonen, mit Menschenkenntnis und Empathie, mit Lernbereitschaft, konstanter Selbstreflexion und Vernetzung zu den anderen Akteuren. Diese wiederum arbeiten so gut, dass sich einige davon nicht vorstellen können, wie katastrophal schlecht manch anderer aus ihrem Berufsstand arbeitet. Vergleichbar ist das mit einer Polizistin, die diesen Beruf gewählt hat, um die Welt zu einem sichereren Ort zu machen und sich dann nicht vorstellen kann, dass beim Kollegen, mit dem sie damals die Ausbildung gemacht hat, kinderpornographisches Material gefunden wurde. Dabei ist Fakt: Nicht alle Menschen lernen aus einem guten Grund einen Beruf, in dem sie Kontakt zu Kindern haben. Laut MiKADO-Studie wurde jeder fünfte Fall sexualisierter Gewalt oder genutzter Missbrauchsabbildungen von Täter*innen verübt, die den Kontakt zu Kindern durch Beruf oder Ehrenamt hatten.
Das grösste Problem: Täter mit Sorge- oder Umgangsrecht
Kinderschutz ist relativ einfach, wenn die damit verbundenen beschuldigten Erwachsenen kein Sorge- oder Umgangsrecht haben. Wenn es also Großeltern, Tante, Onkel, der Fußballtrainer oder Pfarrer ist. Hier können Eltern selbstbestimmt den Kontakt zu den mutmaßlichen Tätern unterbinden und werden bei der Aufarbeitung der Gewalt oder des Missbrauchs im besten Fall von staatlicher Seite unterstützt, auch wenn es keine strafrechtliche Verurteilung gab. Die Betroffenen bekommen Therapien und auch die Eltern, die ja mit betroffen sind, werden in aller Regel unterstützt.
Wie bereits erwähnt sind Täter häufig die leiblichen Eltern. Diese haben das Sorgerecht für das Kind und damit wird der Kinderschutz oft unmöglich. Denn einfach Umgänge aussetzen und den weiteren Kontakt verhindern geht nicht. Um so etwas durchzusetzen, braucht es staatliche Unterstützung. Und hier zeigt die Praxis: Selbst, wenn es nachgewiesene Gewalt in engen sozialen Beziehungen gab, hört man schnell mal Sätze wie: “Naja, solange das Kind die Gewalt nicht am eigenen Leib erlebt hat, ist es ja nicht so schlimm.” Als wäre das Aufwachsen in einer gewaltvollen Atmosphäre, das damit verbundene Zusehen und Aushalten müssen, das Nicht-helfen-können, nicht ebenso traumatisierend. Nicht umsonst ist es eine sehr effektive Foltermethode, Menschen dabei zusehen zu lassen, wie Familienmitglieder gequält und gedemütigt werden. Und an hilflosen Kindern soll all das spurlos vorbeigehen? Sie sollen sich einlassen auf Umgänge mit dem Mann, der jahrelang ihre Mutter geschlagen hat, ihm gehorchen und sich bei ihm so gut benehmen, wie er selbst es in den Jahren des Zusammenlebens nie getan hat? Wie erklärt man das einem Kind? Solange sich also solche unwissenschaftlichen Ideologien ungehindert in Jugendämtern und anderen Institutionen breit machen können, finden sie sich auch in Schriftsätzen der Gerichte wieder. So haben wir am Ende eine staatliche Kindeswohlgefährdung und betroffene Kinder, denen niemand mehr zur Seite steht. Auch, da viel zu viele Fachleute die rechtlichen Grundsätze der im Jahr 2018 eingeführten Istanbul Konvention entweder nicht kennen oder als Kann-Regelung deuten. Dabei ist es eindeutig rechtswidrig, Kinder gegen ihren Willen in Umgänge zu zwingen, erst recht mit gewaltausübenden Personen. Und es ist ebenfalls rechtswidrig, betroffene Elternteile dazu zu nötigen, mit dem Täter-Elternteil Mediationen durchzuführen oder überhaupt gemeinsam Gerichtstermine wahrzunehmen. Nicht selten werden diese Eltern – hauptsächlich Mütter – so massiv unter Druck gesetzt bei Gericht, dass sie berechtigte Angst haben müssen, das Sorgerecht zu verlieren, wenn sie es nicht schaffen, sich “zusammenzureißen” oder die Umgänge zwischen Vater und Kind “nicht klappen”.