Mythen im Kinderschutz
“Zum Streiten gehören immer Zwei”
…sagt der Volksmund. Und leider auch die allermeisten Gerichte und Institutionen. Dies pauschalisiert zu behaupten, ist jedoch genauso absurd, als würde man sagen: “Zu einem Unfall gehören immer Zwei”, obwohl bereits das Verhalten eines Autofahrers ausreicht, um einen Unfall zu verursachen. Zum Beispiel durch das Nehmen der Vorfahrt. Natürlich gibt es Unfälle, die auf Grund des Fehlverhaltens von zwei Verkehrsteilnehmern passieren, aber macht das automatisch jeden Unfall zu einem beidseitigen Versagen? Nein.
Gerade in Fällen häuslicher Gewalt reicht diese eine gewalttätige Person aus, um den Familienfrieden zu zerstören. In diesem Kontext zu behaupten, es würden immer zwei Personen die Verantwortung für eine Situation tragen, ist schlichtweg falsch – und trotzdem wird genau diese Haltung regelmäßig in familiengerichtlichen Verfahren vertreten. Dem Opfer, welches sich aus guten Gründen gegen die geteilte Sorge mit einem gewalttätigen Elternteil positioniert, zu unterstellen, es würde eine Teilschuld an dem Konflikt tragen, nennt man “victim-blaming”. Eine Beschämung des Opfers für die Taten des Täters – also eine klare Schuldumkehr. Darunter fallen auch Aussagen wie “Vielleicht haben Sie ihn ja provoziert” oder “Mag ja sein, dass er Sie geschlagen hat, aber wir wollen jetzt nach vorn schauen”. Es ist richtig und gesund, den Kontakt zu einem gewalttätigen Elternteil minimieren oder ganz unterbinden zu wollen. Und zwar sowohl für sich selbst, als auch die gemeinsamen Kinder. Diesen natürlichen und verantwortungsbewussten Schutzinstinkt dann als “Bindungsintoleranz” auszulegen, ist schlichtweg grausam. Und das geschieht regelmäßig, obwohl die gesetzlichen Grundlagen zum Schutz der Betroffenen – auch ohne eine strafrechtliche Verurteilung – durchaus vorhanden sind. Man muss sie nur anwenden.
“Kinder brauchen immer beide Eltern”.
Wenn dem so wäre, was sollen wir dann tun mit den zig tausenden Alleinerziehenden, Witwern und Witwerinnen? Sind all diese Kinder grundsätzlich schlecht entwickelt, weil sie mit nur einem Elternteil aufwachsen? Fakt ist: Kinder brauchen Liebe, Fürsorge und ein sicheres Zuhause. Und im Idealfall haben sie das berühmte Dorf, also ein Netzwerk aus mehreren Erwachsenen, seien es Großeltern oder gute Nachbarn, die mit da sind, erziehen und entlasten.
Um es salopp zu sagen: Es braucht nicht viel, um rein biologisch Vater oder Mutter zu werden. Kinder können bei Vergewaltigungen gezeugt werden, auch in Ehen. Glaubt jemand ernsthaft, dass Kinder einen Vergewaltiger als Vater brauchen? Gemeinsame DNA macht noch lange keine Familie. Denn Bindungen und Beziehungen lassen sich nicht erzwingen. Ein reiner Geschlechtsakt macht niemanden zu einem guten Elternteil. Und gleichzeitig beweisen viele Pflege- und Adoptivfamilien, dass auch nicht gemeinsame DNA eine Familie sein kann. Denn am Ende kommt es auf Liebe, Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein an.
Dass Kinder unbedingt beide Eltern brauchen ist außerdem ein Gedanke, der von Verfechtern dieses Mythos offenbar nicht zu Ende Gedacht wird: Denn sonst müssten wir doch massenhaft abwesende Väter und Mütter per Gerichtsbeschluss dazu zwingen, Kontakt zu ihren Kindern zu haben und sie mindestens jedes zweite Wochenende zu betreuen. Die Tatsache, dass es jedoch rechtlich NICHT möglich ist, biologische Eltern dazu zu zwingen, Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen, zeigt bereits, dass diese Denkweise jeglicher Grundlage entbehrt. Wieso zwingen also manche Familiengerichte regelmäßig Kinder über Jahre gegen ihren Willen dazu, Umgänge wahrzunehmen? Manche Gerichte gehen sogar so weit und konstruieren eine künstliche Kindeswohlgefährdung, indem sie behaupten, dass das Kindeswohl gefährdet sei, wenn ein Kind den Kontakt zu einem Elternteil ablehnt und übertragen zeitgleich das Sorgerecht auf den abgelehnten Elternteil. Nur damit sie dann die Klausel “unter Zwang” in Ihrem Beschluss verwenden und eben doch Gewalt gegen Kinder anwenden können, denn §90FamFG besagt: “Anwendung unmittelbaren Zwanges gegen ein Kind darf nicht zugelassen werden, wenn das Kind herausgegeben werden soll, um das Umgangsrecht auszuüben. Im Übrigen darf unmittelbarer Zwang gegen ein Kind nur zugelassen werden, wenn dies unter Berücksichtigung des Kindeswohls gerechtfertig ist und eine Durchsetzung der Verpflichtung mit milderen MItteln nicht möglich ist.”
“Ein eingestelltes Verfahren bedeutet, es war nichts”
Strafrecht und Familienrecht sind zwei paar Schuhe. Ein eingestelltes Verfahren bedeutet lediglich, dass es zu dem Zeitpunkt keine hinreichenden Beweise gab oder Kinder keine verwertbaren Aussagen gemacht haben. Wobei man bedenken muss, dass selbst bei verwertbaren und eindeutigen Aussagen immer noch gilt: “Aussage gegen Aussage”. Selbst wenn ein Kind ausführlich von Misshandlungen oder Missbrauch berichtet, reicht das sehr häufig nicht für eine Verurteilung. Vor allem, wenn das Kind sehr jung ist.
Für das Familiengericht gilt es jedoch, alle Aussagen des Kindes, die von externen Personen beobachteten Verhaltensauffälligkeiten und Stellungnahmen von Ärzten oder Therapeuten in ihre Entscheidung für das Kindeswohl mit einzubeziehen. Verweigert ein Kind den Kontakt zu einem Elternteil und berichtet von Gewalt, muss es völlig irrelevant sein, ob es zuvor eine strafrechtliche Verurteilung gab. Dann hat der Schutz des Kindes Vorrang zu haben vor dem “Elternrecht” der mutmaßlichen Gewalttäter.
Das Gleiche gilt für Kinder, die in ihren Pflegefamilien glücklich sind und keinen Kontakt zu den leiblichen Eltern wünschen. Auch wenn die leiblichen Eltern an sich gearbeitet haben und Besserung versprechen, muss in diesen Fällen der Wille des Kindes ausschlaggebend sein und nicht der der Eltern. Den Preis des Kontaktabbruchs müssen die leiblichen Eltern bezahlen. Wir können von Kindern nicht erwarten, als Versuchskaninchen zu dienen, um herauszufinden, ob eine versprochene Besserung auch tatsächlich eingetreten ist.
“Ein traumatisiertes Kind würde nicht lachen”
Kinder sind Anpassungskünstler. Selbst Kinder, die jeden Tag zu Hause Gewalt oder Missbrauch erleben, können – ja müssen! – Auszeiten haben, in denen ihr Gehirn Pause macht vom dauernden Überlebensmodus. Auch gewaltbetroffene Kinder haben Humor, können spielen und sich entspannen. Sie können sogar mit dem Täter*innen-Elternteil Spass haben und spielen. Kinder müssen, um sich halbwegs normal entwickeln zu können, die Gewaltanteile zeitweise abspalten. Und nicht zu vergessen: Viele gewaltbetroffene Kinder versuchen genau durch dieses “ein gutes Kind sein”, zukünftige Gewaltausbrüche abzumildern oder zu verhindern.
“Wenn das Kind über andere Themen spricht, bedeutet das, dass etwaige Gewalt nicht so schlimm sein kann”
Auch dies ist ein fataler Trugschluss. Ein Beispiel: Ein Mädchen wird zuhause jeden Tag angeschrien und regelmäßig sexuell missbraucht. Diese Gewalttaten sind die Normalität dieses Mädchens, es macht sich darüber nicht unbedingt Gedanken, denn “das ist eben so”. Wird dieses Mädchen in der Schule von einem Kind ausgelacht und geht mittags in eine Therapiestunde, wird sie mit Sicherheit vom Auslachen berichten. Nicht vom Missbrauch, der am Abend vorher stattgefunden hat. Denn der Missbrauch findet im Verborgenen statt und ist Teil ihres normalen Alltags, das Auslachen hingegen war eine Ausnahme, passierte am helllichten Tag vor allen anderen Mitschülern und lässt sich gar nicht leugnen in der akuten Gefühlswelt dieses Kindes.
Viele Kinder dissoziieren während einer Gewalttat. Sie lassen es wortwörtlich stumm über sich ergehen, treten geistig aus ihrem Körper heraus und warten einfach ab, bis es vorbei ist. Was bleibt ihnen sonst auch anderes übrig? Gerade bei sexuellem Missbrauch berichten erwachsene Betroffene, dass ihnen erst im Erwachsenenalter bewusst wurde, dass das alles eben keine Liebe war.
Außerdem gehört es zu Täterstrategien dazu, dass das Kind zum Schweigen gebracht wird. Nicht selten fürchten betroffene Kinder sich vor den Folgen einer Offenlegung der Gewalt. Natürlich sprechen Kinder dann über andere Dinge. Und wir dürfen nicht vergessen, dass es einige Kinder gibt, die bereits versucht haben, sich bei Lehrern oder Schulsozialarbeiterinnen Hilfe zu holen. Manche gehen sogar selbst zum Jugendamt oder zur Polizei. Und am Ende wird ihnen einfach nicht geglaubt, sie werden wieder zum Täter zurückgebracht und brutal bestraft. So wird jedes Mal das Vertrauen fassen noch ein bisschen schwerer, als es sowieso schon ist.
“Ein Kind, das Angst hat, würde nicht freudestrahlend auf einen mutmaßlich gewalttätigen Elternteil zurennen”
Das entscheidende Stichwort an dieser Stelle lautet: Angstbindung. Vereinfacht ausgedrückt wissen Kinder evolutionsbedingt intuitiv, dass sie “auf Gedeih und Verderb” ihren Eltern ausgeliefert sind, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Auch Kinder, die Angst haben, tun lange Zeit fast alles, um die Beziehung zu einem gewalttätigen Elternteil aufrechtzuerhalten.
Das erklärt auch, warum manche missbrauchte Kinder sich irgendwann in “vorauseilendem Gehorsam selbst anbieten” – etwas, das die Täter dann wiederum nutzen, um dem Kind einzureden, es würde das alles ja selbst wollen. Auch Kinder, die regelmäßig geschlagen oder angeschrien werden, zeigen sich oft ganz besonders brav, bringen bspw. dem Täter unaufgefordert sein Bier, massieren der Mutter die Schultern, kümmern sich hingebungsvoll um die kleinen Geschwister, damit Mama und Papa nicht gestresst sind. Vergleichen kann man dieses Verhalten mit dem eines Hundes, der einen gewalttätigen Besitzer hat. Fast durchweg ist dieser Hund in Hab-Acht-Stellung, zeigt sich unterwürfig, wedelt beschwichtigend mit dem Schwanz “Du hast mich doch lieb, oder? Komm, lass uns spielen.”
Wenn ein Kind also in einer Anhörung Fragen nach einem Elternteil komplett ausweicht oder nur allgemeine Aussagen trifft wie “Mama/Papa ist böse, ich will da nicht hin”, aber sofort wie positiv ausgewechselt wirkt, wenn das entsprechende Elternteil den Raum betritt, ist das ein ziemlich sicheres Zeichen einer Angstbindung.
“Gewalt gegen die Mutter ist keine Gewalt gegen das Kind”
Falsch! Kinder sind immer von häuslicher Gewalt betroffen – die veraltete, gesellschaftliche Vorstellung, dass sich häusliche Gewalt „nur“ gegen die Kindesmutter richtet und keine Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung sowie die Bindungen des Kindes hat, ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar. Nicht umsonst ist das ansehen müssen von Gewalt eine Foltermethode. Es ist bekannt, dass Menschen psychisch gebrochen werden können, wenn sie die Schreie von Familienmitgliedern im gleichen Gefängnis miterleben müssen, sogar ohne im gleichen Raum zu sein. Menschen haben massive Kriegstraumata, auch wenn sie es selbst körperlich völlig unversehrt aus dem Kriegsgebiet geschafft haben. Die ständige Anwesenheit von Gefahr, das Nichtwissen, wann die nächste Bombe einschlägt, sich versteckt halten zu müssen, “unter dem Radar” zu bleiben – all das reicht, um einen Menschen nachhaltig zu traumatisieren.
Und genau das gleiche gilt für Kinder, die Partnerschaftsgewalt miterleben müssen. Die die Schreie oder das Weinen ihrer Mutter nachts durch geschlossene Türen hören, die sehen müssen, wie sie gekrümmt auf dem Boden liegt oder nächtliche Wutausbrüche des Vaters mit anhören müssen, während sie sich unter ihrer Bettdecke verstecken.
Und nein, das Wehren des angegriffenen Elternteils – falls es dazu den Mut hat – gilt hier nicht als traumatisierende Gewalt. Kinder sind sehr wohl in der Lage zwischen Aggressor und Selbstverteidigung unterscheiden zu können. Der wissenschaftliche Grund, wieso wir das Leid anderer schmerzhaft “am eigenen Leib” spüren können, nennt sich Spiegelneuronen. Es ist also Fakt, dass Mitgefühl und Mitleid ein biologischer Prozess sind. Wenn sogar Erwachsene bei rührseligen Filmen weinen, wohlwissend, dass alles geschauspielert ist – was wird hier von Kindern erwartet, die echte Gewalt miterleben?